Mit dem Inkrafttreten der Reichsjustizgesetze 1879 wurde die Mündlichkeit und Öffentlichkeit der Gerichtsverfahren im gesamten Deutschen Reich instituiert. Um dieser neuen Öffentlichkeit nicht nur einen gesetzlichen Rahmen, sondern auch einen tatsächlichen Platz im Gerichtssaal gewähren zu können, setzte eine zunächst schlichte Planungs- und Bautätigkeit für Gerichtsbauten ein. Diese schlug ab Mitte der 1890er Jahre in eine zusehends elaborierte Gestaltungspraxis um, welche sich in den Treppenhallen und -häusern der Komplexe verdichtete.

Im Zuge dessen, wurde im preußischen Ministerium für Öffentliche Arbeiten ein eigenes Dezernat für Justizbauten, unter der Leitung Paul Thoemers, eingerichtet, dem die beiden Untersuchungsgegenstände dieses kunsthistorischen Projektes entstammen: das Zivilgericht Halle (1901 – 1905) und das Amtsgericht Berlin Mitte (1900 – 1904). Als neue Interaktionstopoi der im Rahmen der Reformen liberal und wirtschaftlich rational konzipierten Bürger*in und der Maschinerie des Verwaltungsstaates, stechen diese Räume gegenüber einer funktionalen Verwaltungsarchitektur hervor. Das Projekt fragt, wie solche elaborierten Räume an der Schnittstelle von rechtlicher und architektonischer Standardisierung und Rationalisierung entstehen konnten. Die zunehmend gewundene Gestalt des Treppenhauses, soll hier vor zeitgenössischen Wahrnehmungs- und Raumtheorien, insbesondere der Einfühlungsästhetik August Schmarsows, verstanden werden. In der somatischen Architekturerfahrung vermittelt der ästhetische Raum der Treppe – als Medium des Rechts, sowie dem Treppensteigen als Handlung – die sozial regulierende Ordnung des neuen Privatrechtes, worin ihnen ein institutionsstabilisierender Evidenzcharakter zukommt.
Neben einer transdisziplinären Untersuchung des epistemischen Potentials des sinnlichen Leibes in der deutschsprachigen Kunstgeschichte, Gestaltpsychologie, Phänomenologie und Ästhetik um 1900, möchte das Projekt sich seinem Gegenstand über die Rechts- und Mediengeschichte sowie neueren Ansätzen der Bürokratieforschung nähern.