„Wir wollen die Architektur­wissenschaften als Forschungs­gebiet etablieren“

Lore Graf: Hallo ihr beiden. Was begeistert euch an dem Thema “Architekturen Organisieren”?

Carsten Ruhl: Mich begeistert, dass das Thema die Möglichkeit bietet, Architekturen weiter zu fassen, als das normalerweise in der Architekturgeschichte der Fall wäre. Es wird möglich, viele verschiedene Disziplinen einzubeziehen und auf eine neue Art und Weise auf architektonische Prozesse zu schauen. Denn wir blicken weniger auf das Gebaute, sondern vielmehr auf die Prozessualität von Architektur.

Sybille Frank: Was mich von Anfang an begeistert hat, ist das Wechselspiel zwischen dem Sozialen und dem Gebauten, was sich auch im Titel des Kollegs widerspiegelt. Den Titel kann man auf zwei Weisen verstehen. Zum einen so, dass Architekturen etwas – in dem Fall die Gesellschaft – organisieren, aber auch so, dass jemand die Architekturen organisieren muss.

Wie kam es zu der Idee für das Graduiertenkolleg?

Carsten Ruhl: Dem Projekt ging eine jahrelange Vorbereitung voraus. Wir wollten interdisziplinär arbeiten und haben überlegt, welche Akteure und Institutionen man im Rhein-Main-Gebiet zusammenbringen kann, um auf eine neue, facettenreiche Art und Weise zu Architektur zu forschen.

Wie sehen diese Kooperationen in der Rhein-Main-Region aus?

Sybille Frank: Durch die Zusammenarbeit zwischen der Goethe-Universität, der TU Darmstadt, der Universität Kassel, einem Max-Planck-Institut sowie dem Deutschen Architekturmuseum können wir unterschiedliche Kompetenzen bündeln. Das Max-Planck-Institut für Rechtsgeschichte und Rechtstheorie bietet beispielsweise Perspektiven, die wir so an den beiden Universitäten nicht haben. Die TU Darmstadt ist indessen überwiegend technisch orientiert, dort gibt es eine Architekturfakultät, die es wiederum in Frankfurt nicht gibt…

Carsten Ruhl: … und in Frankfurt liegen die Qualitäten in den Kultur- und Geisteswissenschaften. Diese verschiedenen Perspektiven können sich gegenseitig bereichern und es uns ermöglichen, Architektur als gesamtgesellschaftliche Anstrengung zu betrachten.

Welche Themenfelder sollen im Rahmen des Graduiertenkollegs untersucht werden? Was sind bisher für Forschungsvorhaben darin angelaufen?

Sybille Frank: Das Kolleg hat drei Arbeitsschwerpunkte: Institutionen, Netzwerke und Diskurse. Wir haben einige Forschungsvorhaben, die sich mit der Entstehung von Gebautem und dessen Rezeption beschäftigen. Hier werden unter anderem Parlamentsgebäude in Brasilien, aber auch Spielplätze im Frankfurter Raum untersucht. Wie sind diese baulichen Strukturen entstanden, wie werden sie genutzt und wie werden sie durch solche Nutzungen vielleicht auch verändert? Wir haben auch Arbeiten, die sich mit Grenzarchitekturen und mit Gefängnissen beschäftigen, wo Architekturen also isolieren und spalten sollen.

Carsten Ruhl: Und wir haben mit Forschungsvorhaben zu tun, wo untersucht wird, wie Menschen aus Krisensituationen heraus versuchen, über materielle Objektivationen und Architekturen ihr Leben weiterzuführen. Es ist ein weites Spektrum. Dabei wird im Graduiertenkolleg neben Deutschland und Europa unter anderem in Sri Lanka, Brasilien, Japan, den USA und Russland geforscht.

Was ist das Besondere am Graduiertenkolleg “Organizing Architectures”?

Carsten Ruhl: Es gibt, jedenfalls mit dieser interdisziplinären Ausrichtung, mit diesem Fokus auf die Praxis, kein zweites Graduiertenkolleg dieser Art im Augenblick. Strukturell betrachtet ist es einzigartig, weil es derart unterschiedliche Institutionen mit einbezieht. Das ist eine Herausforderung, organisatorisch wie inhaltlich.

Im Forschungsprojekt sind Professor*innen, Promovierende und Postdocs aus verschiedenen Disziplinen vertreten: Architektur, Politikwissenschaften, Geographie, Jura, Kunstgeschichte, Soziologie und andere mehr. Wie stellt ihr euch die interdisziplinäre Arbeit vor und was erhofft ihr euch davon?

Sybille Frank: Die Forschungsvorhaben sollen interdisziplinär betreut werden. Wir glauben, dass unterschiedliche disziplinäre Perspektiven nicht nur die Projekte selbst voranbringen, sondern auch unser Kolleg insgesamt. Auf Seminarebene haben wir Austauschformate, in denen wir uns unsere Arbeiten gegenseitig präsentieren. Als Kolleg wollen wir die Architekturwissenschaften als Forschungsbereich etablieren, indem wir Kulturwissenschaften, Planungswissenschaften und Sozialwissenschaften zusammenbringen. Das gibt es so in der Form noch nicht, insbesondere in Deutschland.

Carsten, wie denkst du als Kunsthistoriker mit Schwerpunkt Architekturgeschichte zu der Frage, wie das Organisieren von Architektur sich verändert hat?

Carsten Ruhl: Ich denke, dass sich allgemein unser Verständnis von Architektur mit der Globalisierung extrem verändert hat. Durch die Globalisierung von Lieferketten, Infrastrukturen, das Star-Architekten-System seit den 80er Jahren begreifen wir Architektur nicht mehr als etwas, das stark mit einem spezifischen Ort verbunden ist, sondern ihrerseits als ein globales Phänomen mit all den politischen, ökonomischen und sozialen Effekten, die das mit sich bringt. Zugleich haben wir gerade in den letzten Jahren gesehen, welche große Bedeutung Architekturen als Orte der politischen Auseinandersetzung haben. Proteste und Demonstrationen finden ja nicht im luftleeren Raum statt. Sie nutzen, adressieren, besetzen oder zerstören urbane Räume und deren Architekturen. Gerade der Sturm auf das Kapitol in Washington sowie auf den Platz der drei Gewalten in Brasília haben ja gezeigt, dass es hierbei vor allem auch darum geht, starke Bilder zu erzeugen.

Sybille, du bist Soziologin mit Schwerpunkt Raumsoziologie. Wie organisiert die Gesellschaft die Architektur?

Sybille Frank: Die Gesellschaft delegiert diese Aufgabe an Expertenkreise, an Architektinnen und Architekten, an Menschen in der Planung, Stadtverwaltungen. Da gibt es ein Geflecht konkreter Gruppen, die sich professionalisiert haben, zum Beispiel in Kammern, Genossenschaften, Investmentfonds und so weiter. Es gibt zudem immer mehr Beteiligungsprozesse an der Herstellung von Architektur, die sich dadurch und insgesamt stark politisiert hat. Was soll Architektur leisten? Das ist ein gesellschaftliches Thema geworden. Heutzutage muss man klimagerecht bauen oder die Architektur soll neue Familienmodelle ermöglichen durch eine flexible Raumgestaltung. Und, was wir zum Beispiel bei Black Lives Matter beobachtet haben: Architektur kann in ihrer Symbolik für bestimmte gesellschaftliche Gruppen anstößig sein und wird dann vielleicht zertrümmert, oder zumindest neu interpretiert. Da ist unheimlich viel los im Wechselspiel zwischen der Gesellschaft und dem Gebauten.

Wie können Menschen von den Diskussionen und Forschungsergebnissen aus dem Kolleg erfahren?

Carsten Ruhl: Es wird öffentliche Veranstaltungen und Ausstellungsprojekte im Deutschen Architekturmuseum und darüber hinaus geben, wo wir auch mit Akteuren aus der Praxis ins Gespräch kommen wollen. Es ist uns ein Anliegen, mit der Öffentlichkeit im Austausch zu sein, denn das Thema ist hochaktuell. Außerdem wird es einen Blog auf unserer Website geben und wir möchten eine Schriftenreihe entstehen lassen, die dann kostenlos auf der Website zur Verfügung stehen soll.

Was erhofft ihr euch persönlich von dem Graduiertenkolleg?

Sybille Frank: Ich empfinde es als großes Geschenk, so viele Arbeiten begleiten zu dürfen, die sich aus unterschiedlicher Perspektive mit Architektur beschäftigen. Davon kann ich als Wissenschaftlerin lernen. Selbst habe ich mich mit dem Thema Erbe befasst. Diese Schnittstelle, Erbe- und Erinnerungskultur und Architektur, ist bisher unzureichend erforscht. Die TU Darmstadt hat zudem einen interdisziplinären Schwerpunkt Stadtforschung, den ich leite. Der Architekturschwerpunkt aus dem Kolleg ist da ein tolle Ergänzung. Wir bemühen uns, das auch für Studierende zugänglich zu machen. Es wird jetzt einen Masterstudiengang Urban Studies geben, auch in Zusammenarbeit mit der Uni in Frankfurt.

Carsten Ruhl: In der Kunstgeschichte habe ich eine gewisse intellektuelle Unruhe gespürt in der Beschäftigung mit Architektur und das hat mich in den letzten Jahren ziemlich angetrieben. Was mich interessiert, ist dieser Zusammenschluss von Leuten, die über ihren Tellerrand hinweg eine Offenheit mitbringen, über Architekturen gemeinsam nachzudenken, die in der Lage sind, die Perspektiven der jeweils anderen zuzulassen. In unserer bisherigen Zusammenarbeit habe ich davon bereits profitiert. Das hilft mir, mich selbst immer wieder herauszufordern.